Das Kraft(werk)
Teams | 29. April 2013, 16:12 Uhr

Das Kraft(werk)

Das Kraft(werk)

Herthas Torwart Thomas Kraft hat als Nummer 1 der Liga die wenigsten Gegentore kassiert - Dank seines Rückhalts in jeder Spielsituation spielt der Klub eine erstklassige Saison.
Berlin - Wer Thomas Kraft über einen längeren Zeitraum beim Training beobachtet, kann leicht den Eindruck gewinnen, da sei ein junger Mann am Werk, der immer und ständig mit sich selbst unzufrieden ist. Und manchmal auch mit seinen Mitspielern. Keiner geht die Einheiten so konzentriert an wie der Torhüter, niemand nimmt jede Minute auf dem Trainingsplatz so ernst wie der Stammtorhüter von Hertha BSC. Fast drängt sich das Gefühl auf, der Schlussmann sei es sich selbst und dann natürlich seinem Team am allermeisten schuldig, endlich vielleicht auch mal die Null festzuhalten und hoffentlich nicht mehr so viele Gegentore zu kassieren.

Dabei ist das alles grundfalsch. Zumindest fast alles. Denn Kraft ist nicht nur die Nummer 1 des Aufsteiger-Teams, er ist auch die Nummer 1 der Liga. Nach dem endgültigen Aufstiegs-Gipfel gegen Sandhausen hat der Torhüter in 26 Saisonspielen ganze 15 Gegentore kassiert und zugleich in 13 Spielen die Null gehalten. Unglaublich! Ein anderer könnte bei diesen Zahlen abergläubisch werden, aber nicht Kraft. Der pusht und motiviert sich dessen ungeachtet wie kein anderer. Weil er stets den besten Weg zum Erfolg sucht. Und der ist –  Kraft sollte es dank seiner Vergangenheit bei Bayern München wissen – oftmals recht einfach.
Bayern und Barcelona spielen "schnörkellos einfach"

Aus Erfahrung kann der Schlussmann behaupten: "Guter und erfolgreicher Fußball kann so einfach sein. Ich bin ein Verfechter des einfachen Spiels." Auch deshalb macht es ihn oftmals kirre, wenn ein Mitspieler sich an brotloser Kunst versucht, den Schlendrian raushängen lässt und den Erfolg damit äußerst leichtfertig aufs Spiel setzt. Weil das den Triumph der Mannschaft gefährdet, eckt Kraft also regelmäßig mit seinen Kollegen an. Dabei hat er die besten Beispiele einfachen und zugleich triumphalen Spiels stets parat: "Wenn ich mir den FC Bayern ansehe und den FC Barcelona – beide spielen schnörkellos einfach."

Es ist ein hoher Anspruch. Aber ein Keeper mit seiner Vita, der in Europas Königsklasse einst gegen den FC Basel und sogar gegen Inter Mailand ohne Gegentor geblieben ist, soll und muss es sich leisten dürfen, auch als (alle denken dabei nur an diese einjährige Zwischenstation) Zweitliga-Schlussmann nach den Sternen zu greifen. "Ich weiß, dass es in der Bundesliga ein ungleich höheres Niveau gibt als in der Zweiten Liga, die Anforderungen sind viel höher, deshalb müssen wir alles tun, auch schon jetzt, um diesen Anforderungen näher zu kommen, um ihnen später umso besser entsprechen zu können."

Schlaflose Nächte nach guten und erst nach schlechten Spielen

Einer, der so denkt wie Kraft, ist ein positiv Verrückter, ein Besessener seines Sports, den er in jeder Sekunde in Perfektion ausführen möchte. Das macht ihm das Leben und das Training nicht einfacher. Im Gegenteil. Über Momente, die andere schon nach Minuten längst nicht mehr auf dem Schirm haben, grübelt er noch nach Stunden, nach Tagen und Nächten. Sie beschäftigen ihn bis in den Schlaf und – da er ihn dann nur selten findet – darüber hinaus. "Egal ob wir ein Spiel gewonnen oder verloren haben, gut schlafen kann ich danach nicht", gibt er zu. Fast jede Situation, jedes klitzekleine Detail beschäftigt ihn. Es scheint, als sei da jemand nicht nur ein Verfechter des einfachen Spiels, sondern auch auf der Suche nach der perfekten Partie.
Dabei könnte er ganz locker sein. Denn: "Mein perfektes Spiel? Das hatte ich schon", sagt Kraft, "das hatte ich mit den Bayern. Wir haben gegen Hoffenheim 4:0 gewonnen. Nicht nur, das ich kein Gegentor kassiert habe, das ist noch kein perfektes Spiel, ich reduziere ein Spiel auch nicht auf die Bälle, die ich womöglich aus dem Eck gefischt habe. Aber da hat wirklich jeder Griff gesessen, kein Abwurf kam zu kurz oder zu lang, da hat alles gestimmt." Wahrscheinlich ist das niemandem weiter aufgefallen unter den 69.000 Zuschauern in München außer vielleicht seinem damaligen Trainer Louis van Gaal. Aber das reicht dem Schlussmann schon, denn einer für die Galerie, der extravagant und womöglich nur um der Show willen spektakulär ins Eck hechtet, wollte er nie sein und ist er nie gewesen.

Nur kurz den Moment genießen, dann den Blick nach vorn richten

Stellt sich die Frage, ob sich einer wie Kraft mit solch hohen Ansprüchen überhaupt entspannen kann. Oder bleibt er stets auf der Lauer, um sich immer und immer wieder zu verbessern und an Nuancen zu feilen? Wird so einer den Aufstieg überhaupt genießen können, selbst wenn er den Rekord der wenigsten Gegentore eines Aufsteigers – den hält der VfL Bochum aus der Saison 2005/06 mit 26 – nicht bricht? "Es ist nicht so, dass ich das überhaupt nicht kann. Wenn du dein Ziel erreicht hast – und unser war nun einmal in erster Linie der Aufstieg –, dann kann ich natürlich auch entspannen und den Moment genießen."

Aber lange wird das nicht sein. Dann richtet sich sein Blick schon wieder nach vorn, zur kommenden Saison, zu den Spielen in der Bundesliga. Denn dorthin will Kraft, dort möchte er sich mit Hertha BSC auf Dauer etablieren. Deswegen sucht er den Weg zum möglichst einfachen Spiel. Denn gerade das, auch wenn sich die Blau-Weißen keineswegs mit dem FC Bayern und dem FC Barcelona auf eine Stufe stellen können und möchten – kann so erfolgreich sein.

von Hertha BSC