"Die Spieler müssen das Spiel diktieren!"
Club | 6. Januar 2020, 10:55 Uhr

"Die Spieler müssen das Spiel diktieren!"

"Die Spieler müssen das Spiel diktieren!"

Jürgen Klinsmann zieht im Trainingslager in Orlando eine Zwischenbilanz und spricht über Selbstverantwortung der Spieler, die Kaderplanung und mittel- bis langfristige Ambitionen in der Hauptstadt.
Orlando - Bergfest in Florida! An diesem Montag (06.01.20) haben die Herthaner die Hälfte des Trainingslagers in Orlando absolviert. Lange, laufintensive Einheiten am Vormittag sowie knackige Einheiten im Kraftraum am Nachmittag liegen hinter den Schützlingen von Coach Jürgen Klinsmann. Auf ein ähnlich anspruchsvolles Programm dürfen sich die Blau-Weißen bis zur Abreise am Donnerstagnachmittag (Ortszeit) einstellen. Zwar ist es noch zu früh, um ein abschließendes Fazit zu ziehen, doch die Zwischenbilanz des Berliner Cheftrainers ist eine positive. Im Gespräch mit den Medienvertretern vor Ort spricht der 55-Jährige unter anderem über seinen Umgang mit den Profis, Kaderplanungen und Ambitionen an der Spree. Das Gruppeninterview hat herthabsc.de aufgezeichnet.

Jürgen Klinsmann über …


… einen Teamausflug:
Lars Windhorst hat uns auf sein Boot in St. Petersburg eingeladen. Der Einladung sind wir sehr gerne nachgekommen. Wir haben ein paar Stunden dort verbracht, es gab ein schönes Abendessen. Das war spaßig und relaxend und für die Spieler auch Abwechslung und Belohnung, weil sie trotz aller Anstrengungen im Training klasse mitziehen. Außerdem hat Lars Windhorst sich gefreut, die Spieler und uns als Gruppe alle mal persönlich kennenzulernen.

… das Leihgeschäft von Eduard Löwen:
Eduard ist ein unglaublich großes Talent, aber er braucht Spielzeit. Nicht zuletzt durch die Verpflichtung von Santiago Ascacibar können wir ihm diese nicht garantieren. Wir sind auf allen Positionen doppelt besetzt, im zentralen Mittelfeld sogar noch breiter aufgestellt. Das hat Edu erkannt und uns gebeten, Gespräche mit anderen Clubs führen zu dürfen. Mir ist es sowieso lieber, dass Spieler, die mit ihrer Situation unzufrieden sind, gradeaus auf einen zukommen, um eine Lösung zu finden. Wer weiß, vielleicht spielt er irgendwann wieder für Hertha BSC.

… Konkurrenzkampf im Kader:
Es ist ein ständiger Wettkampf im Fußball - unabhängig vom Alter. In unserer Situation war und ist es wichtig, dass wir zunächst Stabilität und Kontinuität in die Mannschaft bekommen, um zu punkten. Die Spieler, die auf ihre Chance lauern, müssen auf dem Platz zeigen, dass sie besser sind, als diejenigen, die dort gerade die Nase vorn haben. Das ist ein ganz normaler Konkurrenzkampf, der sich entwickelt und den wir Trainer tagtäglich beobachten. Letztendlich wird der Bessere spielen.

… Veränderungen im Aufgebot: Wir haben einen Kader, der mir aktuell noch ein wenig zu groß erscheint. Im Januar wird schon noch ein wenig Bewegung reinkommen. Wir schauen uns auch im Hintergrund weiter um. Aber egal, was bis zum 31. Januar noch passiert: Wir würden nur Spieler holen, die uns direkt weiterhelfen können. Wenn ein Neuzugang kommen sollte, dann nur als klare Verstärkung.
… die Trainingsgestaltung in Orlando: Die Jungs ziehen voll durch, ich bin wirklich mit allen zufrieden. Die Mannschaft bekommt ein noch besseres Gefühl von dem, was wir uns als Trainerteam vorstellen. Sie wissen, was wir von ihnen erwarten, wie sie auf Position 1a oder 1b zu agieren haben. Und auch wir lernen sie immer besser kennen. Wenn die Arbeit dann erledigt ist, übergeben wir den Spielern die Verantwortung. Wir sprechen schließlich über erwachsene Menschen, was sie tun, ist ihnen selbst überlassen. Ob sie zum Beispiel im Hotel essen oder irgendwo anders, steht ihnen frei. Wir geben im Trainingslager nicht alles minutiös vor. Letztendlich ist es ein Prozess, bei dem die Spieler erkennen müssen, dass sie selbst entscheiden, wie weit sie es in ihrer Karriere bringen. Mir hat es als Spieler gut getan, wenn ich Trainer hatte, die mir Freilauf gegeben haben. Dann wusste ich, dass ich selbst verantwortlich für das bin, was ich als Athlet abliefere.

… sein Umgang mit den Spielern:
Das geht damit einher. Die Entscheidungen auf dem Platz treffen die Spieler. Zwar stellt der Trainer auf, kann von der Seite etwas reinbrüllen oder in der Halbzeit eingreifen, aber letztendlich diktieren die Spieler das Spiel, entscheiden, ob sie passen, dribbeln oder schießen. Wir im Trainerteam wollen die Spieler ermutigen, eigene Entscheidungen zu treffen. Die Jungs werden nicht immer alles richtig machen, wir alle machen Fehler, aber das gehört zu diesem Prozess dazu. Wichtig ist, dass sie sich selbst Ziele setzen. Ein Davie Selke muss beispielsweise den Antrieb haben, mehr Tore zu schießen. Ein Marvin Plattenhardt muss alles versuchen, zurück in die Nationalmannschaft zu kommen.

… schwierige Entscheidungen als Coach: Jedem Trainer fällt es schwer, den Spielern unangenehme Nachrichten zu überbringen, aber das ist Teil des Berufs. Wichtig ist, dass man so etwas im persönlichen Gespräch macht, seinem Gegenüber in die Augen sieht und zu seiner Meinung steht. Als Trainer mache ich so etwas nach bestem Ermessen, auch wenn jeder eine andere Blickweise hat. So ist das im Fußball.

Gesagt...

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Die Spieler müssen erkennen, dass sie selbst entscheiden, wie weit sie es in ihrer Karriere bringen. Mir hat es gut getan, wenn ich Trainer hatte, die mir Freilauf gegeben haben.
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-Jürgen Klinsmann

… die Veränderungen im Fußball: Ich bin mit 16 Profi geworden und habe mittlerweile knapp 40 Jahre Erfahrung in diesem Geschäft. Ich weiß, was im Fußball abgeht und wie er sich entwickelt - in Deutschland und im Ausland. Es gibt Maßstäbe, die automatisch gesetzt werden, die kommen aus der UEFA Champions League. Nationaltrainer bei einer Welt- oder Europameisterschaft orientieren sich taktisch an der abgelaufenen Saison der Königsklasse. Diesbezüglich bin ich durch mein Netzwerk immer auf dem neusten Stand, mit dem ich mich austausche und über das ich Infos einhole.

… die bevorstehende Rückrunde: Als wir Ende November hier angefangen haben, war unser Programm schwer. Und machen wir uns nichts vor, es geht direkt schwer weiter. Die Zielvorgabe bleibt, dass wir so schnell wie möglich von unten wegkommen wollen. Wenn ich an einem Projekt mitarbeiten darf, dann gebe ich mein Bestes. Wenn es notwendig ist, nehme ich kleinere oder größere Veränderungen vor, wenn nicht, umso besser. Aber wenn es nicht läuft, muss man alles hinterfragen und überlegen, wo man ansetzen kann. Dass bedeutet nicht, dass alles verändert werden muss, denn oft sind es nur einzelne Stellschrauben.

… seine Ambitionen beim Hauptstadtclub:
Ich habe einen riesigen Spaß hier, stehe voll und ganz hinter der Aufgabe und hinter der mittel- und langfristigen Zielsetzung. Ich wiederhole es gerne: Hertha BSC ist ein großes Projekt! Berlin hat einen Mega-Club verdient. Ich habe in Städten wie London oder Mailand gespielt, in denen die Bedeutung eines Vereins unglaublich groß ist, das hat auch Berlin verdient. Wenn ich dabei mithelfen kann, ist das umso schöner. Aber es liegt an allen Leuten, die dabei sind, nicht zuletzt an den Spielern, Verantwortlichen oder den Fans. Natürlich wird nicht von heute auf morgen alles funktionieren, aber wenn alles sorgfältig geplant und durchdacht ist und wir es zielstrebig umsetzen, ist es realisierbar, innerhalb von drei Jahren viel zu bewegen und Europa zu erreichen. Der Schlüssel ist aber auch, Konstanz aufzubauen und sich dann international zu bestätigen. Das schaffen die Top 12 in Europa, die in drei Wettbewerben und unter der Woche, sowie am Wochenende spielen. Aber erst einmal geht es für uns nur darum, in der Rückrunde möglichst viele Punkte zu sammeln!

(fw/City-Press)

von Hertha BSC