Ein Infoplakat zu unserem Schutzkonzept "Wo ist Lotte?" im Berliner Olympiastadion.
Profis | 6. Februar 2023, 12:03 Uhr

„Das Gespräch hat mir sehr geholfen!“

Der Besuch im Stadion ist für jeden Fußballfan ein absolutes Highlight. Große Emotionen, der eigene, ganz individuelle Blick auf das Geschehen auf dem Grün und ein Gemeinschaftserlebnis, das weltweit immer wieder Menschen verbindet. Doch leider finden immer wieder Grenzüberschreitungen gegenüber einzelnen Besucherinnen und Besuchern statt, die diese langfristig traumatisiert zurücklassen. Diesen Übergriffen treten wir als Verein mit unserem Schutzkonzept „Wo ist Lotte?“ gemeinsam entgegen. Um dessen Notwendigkeit zu unterstreichen, haben wir mit zwei Betroffenen gesprochen. Beide haben sich bereit erklärt, ihre Erlebnisse anonym zu teilen.

Triggerwarnung: Im Folgenden geht es um sexualisierte Gewalt.

„Ich war am 5. November des vergangenen Jahres gemeinsam mit einem Freund, meiner Mutter, meiner Schwester und Freunden von meiner Schwester im Olympiastadion, um ein Spiel von Hertha anzugucken. Wir hatten Karten für die Ostkurve. Man kennt dort nicht immer seine Nebenleute. Jedoch ging ich davon aus, dass alle, die sich in der Ostkurve befinden, darauf fokussiert sind, das Spiel zu verfolgen und als Fan unsere Mannschaft anzufeuern. Dem war am Ende des Tages aus meiner Sicht als Opfer nicht so. Das Spiel war vorbei und die Menschenmassen bewegten sich alle in Richtung der Ausgänge. Die Treppen der Ostkurve sind nicht besonders breit, so dass zwei bis drei Menschen für gewöhnlich nebeneinander oder versetzt laufen. Ich habe mir nichts dabei gedacht, lief neben meiner Mutter und dem Freund von mir die Treppen hoch. Auf einmal habe ich während des Laufens einen Schlag auf meinen Po bekommen. Ich drehte mich sofort um. Meine Begleitpersonen haben es ebenso mitbekommen. Sie sprachen den Mann an, jedoch verschwand dieser schnell in den Menschenmassen, sodass keine weiteren Maßnahmen in diesem Moment möglich waren. Ich war extrem schockiert, stellte mir viele Fragen - jedoch ohne Antwort. Meine Schwester suchte im Anschluss mit mir das „Team Lotte“ von Hertha auf. Dieses unterstützte mich dabei, den Umgang mit der Situation für mich selbst auszuwerten. Das Gespräch half mir sehr. Vielen Dank für euer Engagement und euer Angebot!“

Doch derartige Übergriffe beschränken sich nicht auf bestimmte Stadien, wie das folgende Beispiel beweist:

„Bei einer Auswärtsfahrt nutzte ein männlicher Fan das Gedränge während des Einlasses, um mich an den Hüften von hinten festzuhalten. Er fing an, sich an mir zu reiben. Seine rechte Hand glitt von meiner Hüfte nach vorne zwischen meine Beine. Ich stieß ihn von mir, drehte mich um, fragte ihn, was das soll, beschrieb laut, was er getan hatte und baute währenddessen Blickkontakt zum umstehenden Security-Personal auf. Von den Freunden bzw. männlichen Begleitungen der übergriffigen Person bekam ich folgende Antwort: „Hab dich mal nicht so. Das ist doch ganz normal als Frau im Fußballstadion.“ Das Security-Personal drehte sich wortlos weg. Auch sonst kam mir niemand der Umstehenden zur Hilfe.“

Kein ortsgebundenes, sondern ein generelles Problem

Diese Schilderungen zeigen: Sexualisierte Gewalt ist kein Problem im Fußball oder an bestimmten Orten, sondern ein generelles gesellschaftliches. Als Verein sind wir uns unserer Verantwortung bewusst. Nicht jeder Person ist es derzeit vergönnt, ein sicheres Stadionerlebnis zu haben. Deshalb haben wir als Club das Schutzkonzept „Wo ist Lotte?“ ins Leben gerufen und stehen Betroffenen zur Seite. Das Angebot richtet sich an alle Menschen, die am und rund um den Spieltag Hilfe brauchen. Mit dem gleichnamigen Codewort könnt ihr euch in oder nach unangenehmen Situationen an sämtliches Stadion- oder Hertha-Personal wenden. Dieses stellt dann Kontakt zum mobilen „Team Lotte” her. Die Helferinnen und Helfer bringen euch entweder zum Schutzraum in Block O, wo euch geschulte Psychologinnen betreuen, oder man euch anderweitig hilft – je nach euren Bedürfnissen. Auch über den jeweiligen Spieltag hinaus ist das Team des Schutzkonzepts telefonisch und per E-Mail zu erreichen und bietet Betreuung und Unterstützung an. Zudem stehen wir in Kontakt mit externen Rettungs- und Anlaufstellen, die ebenfalls Hilfe leisten können.

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Wichtig ist, dass jeder Mensch beim Stadionbesuch sein Umfeld im Blick hat und auf seine Mitmenschen achtet.
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-Stefano Bazzano

Eure Hilfe ist essenziell

Dieses System funktioniert jedoch nur mit eurer Unterstützung: Haltet am Spieltag die Augen offen, greift ein und helft, wenn es nötig ist. Das könnt ihr mit Augenkontakt zur betroffenen Person, eine Unterbrechung der akuten Situation durch einen Gesprächsbeginn oder Informieren des Ordnungspersonals vor Ort erreichen. „Es gibt verschiedenste Möglichkeiten, betroffenen Personen zur Seite zu stehen und bei Übergriffen zu intervenieren. Wichtig ist, dass jeder Mensch beim Stadionbesuch sein Umfeld im Blick hat und auf seine Mitmenschen achtet“, verdeutlicht Stefano Bazzano, Teamleiter Fanbetreuung bei Hertha BSC. So wollen, so können, so müssen wir unserem Ethikkodex gemeinsam gerecht werden. Grenzen sind subjektiv und bei jedem Menschen anders. Grenzüberschreitungen beginnen mit Blicken und Sprüchen, nicht erst mit Berührungen. Entscheidend ist, die Perspektive der betroffenen Person einzunehmen und nicht die eigene Leidensfähigkeit als Maßstab anzusetzen. Bei Fehlverhalten, das Menschen verletzt, müssen wir alle Haltung zeigen und couragiert einschreiten. Für ein sicheres Stadionerlebnis für alle – in Berlin und überall!

von Konstantin Keller