Grafik zum Exil-Herthaner Christopher Vogel.
Fans | 6. August 2023, 16:19 Uhr

Von Hauptstadt zu Hauptstadt

Die 90er-Jahre waren eine außergewöhnliche Zeit zum Erwachsenwerden und mit einer ganz eigenen Atmosphäre verbunden. Die Phase des analogen Übergangs bedeuteten vor allem, sich mit begrenzten Informationsflüssen zu arrangieren. Das galt natürlich auch für den Sport. Die Möglichkeit, Spiele live im Fernsehen zu verfolgen, gestaltete sich noch eingeschränkt und das Internet stand erst in den Anfängen. Fans waren auf traditionelle Medien wie Radio, Zeitung oder den berüchtigten Teletext angewiesen, um sich über die neuesten Ergebnisse zu informieren. So erging es auch Christopher Vogel, glühender Hertha-Fan und mittlerweile in Wien lebend.

Teletext, Radio und Kleingartenkolonie

In jungen Jahren gab es für den gebürtigen Berliner nur wenige Optionen, um die Spiele unserer Blau-Weißen zu verfolgen. Großes Vergnügen bereitete es dem 1993 in Charlottenburg geborenen Berliner, stundenlang die Ziffern des Teletextes anzustarren und in pure Freude oder auch Verzweiflung zu verfallen, wenn sich das Ergebnis plötzlich änderte. Das höchste der Gefühle war es, wenn der junge Fan die Schlussphase des Bundesliga-Spieltages live im Radio hören durfte. Doch nicht immer gab es die Möglichkeit, an Live-Informationen zu gelangen. „Ich weiß noch genau, wie ich bei meinen Großeltern in der Kleingartenkolonie auf dem Spielplatz war und mich darauf zu konzentrieren, was ein paar Kilometer weiter unsere Alte Dame wohl gerade macht. Spätestens wenn im Märkischen Viertel ein Böller losging, wusste ich, dass wir wahrscheinlich gerade ein Tor geschossen hatten“, erinnert sich der Exil-Herthaner.

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Spätestens wenn im märkischen Viertel ein Böller losging, wusste ich, dass wir wahrscheinlich gerade ein Tor geschossen hatten.
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-Christopher Vogel

Taschengeld für Hertha 

Der erste Stadionbesuch folgte, als ihn seit Vater mit ins Olympiastadion nahm. An das 3:6 gegen den FC Bayern München am 10. Mai 2003 erinnert sich der Fußball-Enthusiast noch allzu gut. „Wir haben uns vor dem Stadion Tickets besorgt und fanden uns dann mitten im Bayern-Block wieder. Die Münchner um mich herum erschienen mir eher unsympathisch. Das hat meine Verbundenheit zur Hertha zweifellos noch weiter gestärkt", erzählt der 29-Jährige. Von da an versuchte der junge Blau-Weiße, im Rahmen seiner Möglichkeiten kein Spiel mehr zu verpassen. Im Alter von 13 Jahren holte sich der damalige Schüler seine erste Ostkurven-Dauerkarte. Anschließend war jedes Heimspiel ein absolutes Muss. „Die Regel lautete: Freitag bis Sonntag mit und für Hertha unterwegs sein und unter der Woche in der Schule die Stimme schonen, um am Wochenende wieder voll durchzustarten", berichtet Vogel mit einem Grinsen im Gesicht.

In der Saison 2009/10 wurde der damals jugendliche Fan auf eine harte Probe gestellt. Während er als Teenager ein Auslandsjahr in Australien verbrachte, musste er aus der Ferne mitansehen, wie unsere Spreeathener Spiel um Spiel verloren. Diese Runde kostete dem Blau-Weißen nicht nur eine Menge Nerven, sondern auch viel Geld und sogar einmal seinen Schlafplatz. Da die Spiele meist mitten in der Nacht stattfanden und der leidenschaftliche Berliner ab und zu etwas emotional mitging, musste er seine Gastfamilie wechseln. Darüber hinaus verbrauchte der Hauptstädter das begrenzte WLAN-Kontingent durch die Livestreams sehr schnell und schaffte sich anschließend einen Internet-Stick mit einem Gigabyte Highspeed für den horrenden Preis von 50 australischen Dollar an. „Ich habe mein ganzes Taschengeld ausgegeben, um Hertha spielen zu sehen. Ich hatte einfach keine andere Wahl", erinnert sich der Student.

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Ich habe mein ganzes Taschengeld ausgegeben, um Hertha spielen zu sehen. Ich hatte einfach keine andere Wahl!
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-Christopher Vogel

Christopher Vogel sendet blau-weiße Grüße aus Wien.

Von Berlin nach Wien

Apropos Studium: Seine Heimatstadt verließ Vogel vor über vier Jahren. Die Möglichkeit, Medizin zu studieren, lockte den Fußball-Enthusiasten von der deutschen in die österreichische Hauptstadt. „Wien ist zweifellos eine architektonisch wunderschöne Stadt, aber für meinen Geschmack ist sie etwas zu versnobt“, berichtet der Exil-Herthaner und führt fort: „Mir fehlt diese etwas unnötig schroffe, aber keineswegs bösartige Berliner Art.“

Trotz des anspruchsvollen Studiums, der Arbeit im Krankenhaus, seiner Jobs als Tennistrainer und Fußballschiedsrichter sowie der mehr als siebeneinhalbstündigen Fahrt von Wien nach Berlin hindern all diese Herausforderungen den Blau-Weißen nicht daran, regelmäßig ins Olympiastadion zu kommen. „Ich besitze immer noch eine Dauerkarte. Zwar schaffe ich es nicht zu jedem Heimspiel, aber ich versuche so oft wie möglich dabei zu sein", erzählt Vogel stolz. Dass der Herthaner mit seiner großen Liebe in den vergangenen Jahren mehr durch dick als dünn gegangen ist, hat seine Bindung zum Berliner Sport-Club keinesfalls erschüttert. „In jeder anderen Beziehung, in der ich so oft und nachhaltig enttäuscht worden wäre, hätte ich längst das Weite gesucht. Aber der Verein ist einfach die Liebe meines Lebens“, erzählt Vogel mit einem Schmunzeln. Seinen Wunsch für die Zukunft formuliert er trotzdem klar: „Ich hoffe einfach, dass wir diesen Hertha-Weg gehen und wieder mehr Jungs aus Berlin, für Berlin auf dem Platz stehen.“

von Jan Ole Tabert