Tjark Ernst klatscht mit Toni Leistner ab.
Profis | 23. Dezember 2023, 10:00 Uhr

Reifer Ruhepol

Elfmeter. Keeper gegen Schütze, Schütze gegen Keeper. Von Angesicht zu Angesicht. Die ultimative Zerreißprobe für die Nerven. So geschehen im Achtelfinale des DFB-Pokals, als im Duell zwischen unserem Hauptstadtclub und dem Hamburger SV die Entscheidung über das Weiterkommen vom Punkt fallen sollte. In jenen Momenten am Nikolaustag schien mindestens ein Blau-Weißer die Ruhe selbst zu sein: Tjark Ernst. Unser Torhüter sorgte mit seiner Parade gegen Ransford Königsdörffer für eine emotionale Explosion auf den Rängen des Olympiastadions, zeigte aber selbst keine Regung. „Innerlich habe ich mich natürlich gefreut. Aber ich wusste auch, dass noch nichts entschieden ist“, verrät unsere Nummer 12 rückblickend. Eine Begebenheit, die exemplarisch für den 20-Jährigen steht: Er besticht trotz seines jungen Alters durch eine erstaunliche Ruhe und Abgeklärtheit. „Meine Mitspieler sollen wissen, dass sie sich auf mich verlassen können“, betont der Schlussmann, der auch abseits des Rasens reifer als die meisten Gleichaltrigen wirkt. „Ich glaube, dass ich diese Gelassenheit schon immer in mir habe. Sie ist ein Teil meines Spiels“, so Ernst weiter.

Thomas Ernst steht neben Solomon Okorowonko und Ingo Hertzsch.
106 Bundesligaspiele: Papa Ernst traf aber nur als Gegner auf unsere Alte Dame.

Vorgezeichneter Weg im Zeichen des runden Kunstleders

An der Verbesserung jenes Spiels feilt der Herthaner mit großer Akribie und viel Ehrgeiz nahezu schon seit seiner Geburt. „Fußball hat von Tag eins an mehr oder weniger mein Leben bestimmt“, erinnert sich der Keeper und untermauert diese Aussage mit Beispielen: „Das erste Wort, dass ich sagen konnte, war: Ba. Für Ball. Außerdem bin ich schon als Baby immer mit einem Ball durch die Wohnung gekrabbelt. Wenn mich meine Eltern beruhigen wollten, haben sie mir einen Ball gegeben“, erzählt der 1,93-Meter-Mann und fügt mit einem Schmunzeln hinzu: „Der Ball stand immer im Mittelpunkt. So bin ich groß geworden und das hat sich bis heute nicht verändert – zum Glück!“ Der Weg des gebürtigen Stuttgarters war dementsprechend vorgezeichnet.

Erst recht, weil seine Eltern ebenfalls auf professioneller Ebene kickten. Kerstin Pohlmann-Ernst lief von 1989 bis 1995 im Mittelfeld des FSV Frankfurt auf. „Von ihr habe ich das Spiel mit dem Fuß – das sieht Papa genauso“, sagt der Wahl-Berliner, den es im Sommer 2022 vom VfL Bochum zu unserer Alten Dame zog, lachend. Im Trikot des Ruhrpottclubs stand einst auch Thomas Ernst zwischen den Pfosten. Tjarks Vater hütete zwischen 1987 und 2006 in insgesamt 106 Bundesliga-Spielen den Kasten. Dabei parierte der 56-Jährige sowohl für die Westdeutschen als auch zuvor für Eintracht Frankfurt sowie danach für den VfB Stuttgart und den 1. FC Kaiserslautern.

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Ich glaube, dass ich diese Gelassenheit schon immer in mir habe. Sie ist ein Teil meines Spiels.
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-Tjark Ernst

Tjark Ernst, Márton Dárdai und Marten Winkler jubeln gemeinsam.
Emotionaler Nachmittag: Tjark Ernst freut sich mit seinen Kollegen über den Sieg auf dem Betzenberg.

Festtage im Kreise der Familie

Auf dem Betzenberg, der abschließenden Karrierestation Ernst Seniors, schaute auch schon der ältere von zwei Söhnen regelmäßig zu und flitzte nach dem Abpfiff über den Rasen. Nicht zuletzt deshalb bezeichnete der Spreeathener die jüngste Auswärtspartie der Dárdai-Schützlinge bei den Roten Teufeln als „das emotionalste Spiel meiner bisherigen Karriere“. Unser Schlussmann, dessen Bruder Lasse für die U19 der DJK TuS Hordel spielt, erklärt: „Dort habe ich erstmals Stadionluft geschnuppert, dort hat quasi alles begonnen. Ich kann mich zwar nicht mehr so richtig erinnern, aber ich schaue mir oft Bilder und Videos von früher an.“ So auch einen Beitrag des SWR aus dem Dezember 2004. Darin zu sehen: Der knapp anderthalbjährige Tjark, wie er mit dem offiziellen Spielball der Europameisterschaft in Portugal sowie die Jubelpose seines damaligen Lieblingsspielers Halil Altintop nachahmend über eine Wiese läuft. Nicht auszuschließen, dass dieses goldige Archivstück auch an Weihnachten über den Bildschirm im Hause Ernst flimmert. Die Festtage verbringt die Familie abwechselnd bei den Großeltern mütter- und väterlicherseits, die jeweils in der Nähe von Wiesbaden leben. „Grundsätzlich dreht sich bei uns schon viel um Fußball. Aber es ist jetzt nicht so, dass wir nur über dieses Thema reden“, unterstreicht der Blau-Weiße. Wenn Oma, Opa, Onkel oder Tante jedoch wissen wollen, wie seine vergangenen Monate verlaufen sind, werde er berichten, so Ernst. Schließlich hat sich einiges zugetragen.

Zwar fühlt es sich an, als würde der 20-Jährige schon seit Ewigkeiten mit unserer Fahne auf der Brust durch den Strafraum fliegen – sein Profidebüt feierte der Torwart allerdings erst im Mai dieses Jahres. Am letzten Spieltag der zurückliegenden Saison im Oberhaus verblüffte unser Spreeathener erst auf dem Feld beim 2:1-Auswärtserfolg über den VfL Wolfsburg und anschließend vor den Mikrofonen mit seiner Coolness. „Es ist nicht selbstverständlich, diese Chance zu bekommen. Obendrein bin ich sehr zufrieden mit meiner Leistung, aber auch mit der des gesamten Teams“, gab der reife Ruhepol nach seiner Premiere zu Protokoll. Rückblickend ordnet der Hüne ein: „Das war ein Tag, auf den ich mich riesig gefreut und eigentlich mein ganzes Leben lang hingearbeitet habe.“

Tjark Ernst pariert einen Ball im Sprung.
Bei Wind und Wetter im Flugmodus: Unsere Nummer 12 arbeitet akribisch an seiner Weiterentwicklung.

Nur ein jüngerer Stammkeeper in 1. und 2. Liga

Doch damit nicht genug. Zu Beginn der laufenden Spielzeit avancierte unser Youngster nach Oliver Christensens Abschied zum Stammkeeper von Hertha BSC – in Fürths Johannes Urbig hat in den beiden höchsten Spielklassen nur ein einziger noch jüngerer Akteur diesen Status inne. „2023 war für mich persönlich von vielen Höhen geprägt. Das macht mich stolz“, resümiert der Modellathlet. Doch Ernst wäre nicht Ernst, würde er es bei diesen Worten belassen. „Darauf kann und will ich mich nicht ausruhen“, macht der Profisportler seine tadellose Arbeitseinstellung deutlich. „Im neuen Jahr gilt es, wieder anzugreifen und zu versuchen, dieses noch besser werden zu lassen. Ich möchte mich kontinuierlich in allen Bereichen steigern.“

Zusammen mit Torwarttrainer Andreas Menger stehen dann unzählige weitere Trainingsstunden auf dem Schenckendorffplatz an. Schuss, Absprung, Parade und von vorn. Ob bei Sonne oder Kälte, Regen oder Sturm. „Ich kann im athletischen Bereich noch zulegen. Außerdem will ich mit dem Ball am Fuß noch ruhiger werden, damit mich meine Mitspieler noch mehr ins Aufbauspiel einbinden können Und ich möchte mich als Persönlichkeit weiterentwickeln“, skizziert der U20-Nationalspieler, der bei den jüngsten Auftritten der DFB-Auswahl sogar die Kapitänsbinde trug, seine To-Dos. Pál Dárdai lobt seinen Schützling: „Er ist ein Rohdiamant. Ich bin sehr zufrieden mit ihm, aber wir wissen, wie es ist: Ein junger Spieler macht auch Fehler, aus denen er dann wiederum lernt“, so unser Übungsleiter.

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Grundsätzlich dreht sich bei uns schon viel um Fußball. Aber es ist jetzt nicht so, dass wir nur über dieses Thema reden.
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-Tjark Ernst

Das Hertha-Team beobachtet Tjark Ernst bei einer Parade im Elfmeterschießen.
Auslöser eines Emotionsausbruchs: Die Teamkollegen beobachten Ernst bei der entscheidenden Parade.

Familie Ernst und die Sache mit dem DFB-Pokal

Mit unserem Hauptstadtclub verfolgt Ernst ebenfalls ehrgeizige Ziele. „Wir haben eine enorme Serie hingelegt, die uns Mut macht. Es ist extrem schwierig, uns zu schlagen. In der Mannschaft steckt trotzdem noch mehr. Wenn wir das in der Rückrunde von Beginn an auf den Platz bekommen und alle fit bleiben, dann bin ich guter Dinge“, blickt unsere Nummer 12 auf die zweite Saisonhälfte, in die unser Team als Tabellensiebter geht. Außerdem ebnete der Torwart, der in seinen 14 Ligaeinsätzen einen Strafstoß gegen Nürnbergs Can Uzun und insgesamt 53 Schüsse parierte, wie eingangs erwähnt auch den Weg ins Viertelfinale des DFB-Pokals. In der Runde der letzten Acht steht im Olympiastadion das schnelle Wiedersehen mit dem 1. FC Kaiserslautern (31.01.24, 20:45, Ticket-Infos) an. 

Apropos DFB-Pokal, apropos Olympiastadion: In unserem Wohnzimmer gewannen einst sowohl Mutter Kerstin 1990, 1992 und 1995 sowie deren Zwillingsschwester Dagmar 1990, 1992, 1995 und 1996 mit dem FSV Frankfurt als auch Vater Thomas 1988 mit Eintracht Frankfurt diesen Wettbewerb. „Darüber haben wir natürlich schon gesprochen“, so Ernst Junior, der erstmals für die U16 in einem Schülerländerspiel gegen Frankreich in dieser historischen Spielstätte auflief.  „Das war ein Riesenhighlight, nach dem wir gesagt haben: Jetzt haben wir alle schon im Olympiastadion gespielt. Inzwischen kamen für mich ein paar weitere Partien hinzu – aber ein Pokalfinale fehlt noch. Da haben meine Eltern und meine Tante vorgelegt, ich muss noch nachziehen. Je früher, desto besser“, stellt der Herthaner grinsend klar. Auf dem möglichen Weg dorthin spielen mit Sicherheit auch seine Ruhe und Abgeklärtheit noch das eine oder andere Mal eine entscheidende Rolle. Möglicherweise auch beim Elfmeterschießen.

von Erik Schmidt