Die Geschwister von Hertha-Fan Konsti beim Interview über Trainsurfing.
Club | 10. Dezember 2025, 19:00 Uhr

„Ihnen war nicht bewusst, dass sie ihr Leben riskieren“

Am 27. April 2025 verstarben zwei junge Menschen aus Berlin bei der Fahrt auf dem Dach einer S-Bahn. Einer von ihnen war der Herthaner Konsti. In der Nähe des S-Bahnhofs Schlachtensee kollidierten er und sein Freund beim sogenannten Trainsurfen mit einer Signalbrücke. Was in den sozialen Medien gerne als ultimativer Kick präsentiert wird, führte zu einem Unfall, der fassungslose und erschütterte Angehörige, Freundinnen und Freunde, Mitschülerinnen und Mitschüler zurückließ. Konstis Geschwister möchten ihren Teil dazu beitragen, anderen Familien diesen Schmerz zu ersparen, und kamen deshalb auf Hertha BSC zu – um die Geschichte ihres Bruders und seines Freundes zu erzählen und ausdrücklich vor dem Trainsurfen, das immer wieder zu schweren und tödlichen Unfällen führt, zu warnen.

Ihr habt am 27. April euren Bruder Konsti durch Trainsurfen verloren. Wollt ihr uns von ihm erzählen? Was für ein Mensch war er? 
Schwester: Konsti war ein sehr lustiger und schlagfertiger Mensch, das hat ihn besonders ausgemacht. Er hat oft sehr kluge und ehrliche Kommentare gemacht, die einen zum Lachen gebracht haben. Außerdem war er schon immer voller Energie, gerne in Bewegung und hatte dabei gleichzeitig eine sehr gelassene Art. Er ist sehr entspannt durchs Leben gegangen. Sein breites Grinsen fehlt uns und es fehlt vielen anderen. Es war einfach toll, Konsti im Leben zu haben. Zudem war er in einer super aufregenden Lebensphase, ist kurz vor seinem Tod 18 geworden und hatte frisch den Führerschein in der Tasche. Im Sommer wollte er mich mit dem Auto besuchen, wir wollten an den See fahren und abends in Kneipen gehen. Er ist mehr losgezogen und wir haben uns darauf gefreut, mehr mit ihm loszuziehen. Es war eigentlich eine sehr aufblühende Phase, in der er gerade steckte.
Bruder: Wir haben an den Briefen, die wir nach seinem Tod bekommen haben, auch gemerkt, wie sehr ihn alle für diese fröhliche Art geschätzt haben. Innerhalb der Familie konnte er natürlich auch mal aufbrausend sein, aber das ist ja ganz normal. Seine innere Ruhe und seine Lebensfreude haben ihn geprägt. Umso mehr hat alle schockiert, was dann passiert ist. Das hat nicht zusammengepasst. Er war insgesamt sehr leidenschaftlich, hat bestimmte Hobbies, die er schon hatte, seit er ein kleines Kind war, immer durchgezogen: Tennis, Wandern gehen in den Bergen, Skifahren. Und das betrifft auch seine Verbindung zu Hertha. Wir haben Fotos von ihm, auf denen er als Sieben- oder Achtjähriger in blau-weißen Sachen durchs Haus läuft. Er war auch für seinen Enthusiasmus bekannt, kannte jeden Spieler. Wir sind alle Hertha-Fans in der Familie, aber er war der Größte.

Was hat Hertha BSC für ihn bedeutet?
Bruder: Ich glaube, dass der Gemeinschaftsaspekt, das Gefühl, dass man Teil von etwas Größerem ist, für ihn etwas Besonderes war. Hertha ist nicht der leichteste Verein für einen Fan, es gibt Höhen und Tiefen – aber genau das mochte er.

Konsti war Fan und auch Mitglied in unserem Verein. Ihr seid auf uns zugekommen, damit wir gemeinsam auf die Gefahren von Trainsurfen hinweisen können, indem ihr uns eure Geschichte erzählt. War es eine schwere Entscheidung mit eurer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen?
Bruder: Es hat sich auf jeden Fall richtig angefühlt. Nach Konstis Tod kam mir relativ schnell der Gedanke, auf Hertha zuzugehen – weil ich ihn so sehr mit Hertha verbunden habe. Ein guter Freund von mir hat mich dann unabhängig davon auch darauf angesprochen, auf den Verein zuzugehen. Dann habe ich die E-Mail geschrieben. Es fühlt sich richtig an, mit dem Club, den Konsti so geliebt hat, das Thema anzugehen. Trotzdem war es natürlich schwer, das Treffen zu organisieren, herzukommen und sich so wieder mit der Todesursache auseinanderzusetzen.
Schwester: Eigentlich ist der Instinkt, sich zurückzuziehen und in einem engen Kreis zu bleiben. Es ist nicht leicht, etwas so Intimes mit der Öffentlichkeit zu teilen. Aber wir sind uns sehr sicher, dass der Schritt richtig und dringlich ist.

War dieses Gefühl der Dringlichkeit der Hauptgrund für euch, um aktiv zu werden?
Schwester: Auf jeden Fall!
Bruder: Man hat den Eindruck, dass sich Trainsurfen zu einem Trend entwickelt. Vorher sind wir mit dem Thema nicht groß in Berührung gekommen, und erst wenn man dann recherchiert, fällt einem auf, wie verbreitet es ist. Es gab vor kurzem schon wieder einen damit verbundenen Todesfall, damit sind wir bei dreien in den vergangenen Monaten, im Februar gab es zudem einen zwölfjährigen Schwerverletzten. Das Ganze scheint sich zu verbreiten, deshalb hatten wir das Gefühl, jetzt handeln zu müssen.

Zu dieser Verbreitung trägt auch der Content auf verschiedenen Social Media-Plattformen bei, der Trainsurfen glorifiziert und als ultimativen Kick darstellt. Was geht in euch vor, wenn ihr so etwas seht?
Schwester: Der Kontrast zwischen dem, was dort vermittelt wird, und unserer Realität, dem, was unser Bruder, sein Freund und wir erfahren mussten, ist riesig. Wenn Menschen dort zu pathetischer Musik in den Sonnenuntergang fahren, man aber eben weiß, wie das ausgehen kann, sind solche Videos sehr frustrierend. Es macht mich auch wütend, dass solche Inhalte so unreflektiert verbreitet werden – gerade von Menschen, die eine große Reichweite haben und offenbar nicht darüber nachdenken, welchen Einfluss sie haben. All das hinterlässt ein komisches Gefühl: Wir waren schockiert, dass unser Bruder so etwas macht, sein Leben so aufs Spiel gesetzt hat - und haben dann mit der Zeit bemerkt, dass ihm und seinem Freund vielleicht gar nicht bewusst war, dass sie genau das tun. Das liegt auch an solchen Videos, ist sehr traurig – und sehr gefährlich.
Bruder: Die Videos wirken natürlich total euphorisch und sind darauf ausgelegt, Grenzen zu überschreiten. Ich kann schon verstehen, dass das sehr anziehend wirken kann. Die Konsequenzen und all die Gefahren, von denen man möglicherweise noch gar nicht gehört hat, der mögliche Tod oder lebenslange Verletzungen, werden aber völlig ausgeblendet.

Der Tod von Konsti und seinem Freund sind leider kein Einzelfall. Zuletzt haben sich Todes- und schwere Unfälle aufgrund von Trainsurfen wieder gehäuft. Der Spiegel titelte bereits „Ein gefährliches Phänomen aus den Neunzigerjahren tritt wieder häufiger auf“. Welche Botschaft habt ihr für andere junge Menschen, die Trainsurfen als Mutprobe oder Kick sehen?
Bruder: Man sollte gut darüber nachdenken, was man dabei aufs Spiel setzt und welche Konsequenzen Trainsurfen haben kann – nicht nur für das eigene Leben, sondern auch für das der Mütter, Väter, Geschwister, Freunde, in das ein tiefes Loch gerissen werden kann. Als wir vom neuesten Fall erfahren haben, war unser erster Gedanke, dass jetzt wieder eine Familie so dasitzt, wie wir am 27. April. Wenn man selbst noch nicht in so einer Situation war, ist das vielleicht sehr abstrakt – etwas, das einen selbst nicht betrifft. Doch die schrecklichen Konsequenzen sollte man sich bewusst machen.
Schwester: Wir möchten eine Gegenperspektive schaffen. Nicht verurteilen, aber aufzeigen, was passieren kann – und dass es sich deshalb einfach nicht lohnt, dieses Risiko einzugehen. Wenn du, wie Konsti und sein Freund, denkst, dass beim Trainsurfen schon nichts passieren wird, täuschst du dich. Die wenigen Minuten, vielleicht nur Sekunden Abenteuer sind nichts wert, wenn du dann plötzlich von einem auf den anderen Moment alles verlierst. 

Bahn und Bundespolizei versuchen bereits, mit Aufklärungsvideos über ihre Kanäle auf die Thematik und die damit verbundene Lebensgefahr hinzuweisen. Was wünscht ihr euch, was durch eure Aktion gemeinsam mit Hertha BSC erreicht wird?
Bruder: Wichtig ist, dass man das Thema nicht angeht, als würde man mit Verrückten sprechen. Meistens sind es junge Männer, die S-Bahn-Surfen gehen – und die meisten Menschen haben solche in ihrem Freundes-, Bekannten- oder Familienkreis. Die Anziehungskraft des Trainsurfens, und eben auch die Gefahren, sind nicht zu unterschätzen. Selbst hatte ich mit dem Thema vorher nur einmal einen Berührungspunkt, als ein Junge aus meiner Schule, der zu dem Zeitpunkt deutlich älter war als ich, umgekommen ist. Trotzdem ist es etwas Abstraktes geblieben, etwas, das vermeintlich nur „Verrückte“ machen. Umso größer war der Schock, als ich die Todesursache meines Bruders erfahren habe. Bis heute zerbrechen wir uns den Kopf, wie es sein kann, dass er das gemacht hat. Man muss vermitteln, dass Trainsurfen uns alle betreffen kann. Das ist uns wichtig.
Schwester: Wir möchten das Thema in eine Öffentlichkeit bringen, die junge Menschen erreicht. Wir wünschen uns, dass Freunde und Familie untereinander darüber sprechen. Auch Aufklärung in Schulen wäre sinnvoll. Zudem wünsche ich mir, dass Menschen, die Trainsurfen auf Instagram idealisieren, die Wirkung ihrer Videos hinterfragen – und stattdessen mal offener über die Risiken sprechen.

Was müsste sich darüber hinaus ändern, damit weniger Jugendliche solche Risiken eingehen?
Schwester: Es ist ja ziemlich normal, dass Jugendliche Lust haben, Risiken einzugehen. Das gehört ja auch irgendwie dazu – Trainsurfen nicht. Das darf nicht normalisiert werden. 
Bruder: Trainsurfen muss in Schulen und öffentlichen Medien stärker diskutiert werden, es sollte einen Diskurs geben, dass es eine reale Gefahr darstellt und kein Tabuthema sein darf. Auch und gerade im Familienkreis sollte man darüber nachdenken, Trainsurfen einmal anzusprechen. Wir hätten uns gewünscht, darüber einmal gesprochen zu haben, aber wir hatten das Thema überhaupt nicht auf dem Schirm. Und, sobald es Anzeichen gibt, dass jemand, den man kennt, das vielleicht machen möchte – zum Beispiel, indem er oder sie entsprechende Videos liket – dann sollte man darüber sprechen und klarmachen, dass der Tod dabei eine sehr reale Konsequenz sein kann.

Hertha BSC setzt sich mit der Bedeutung von Trauerkultur im Fußballkontext auseinander, die bei unserer Alten Dame einen besonderen Stellenwert besitzt. So beteiligte sich unser Hauptstadtclub am im Sommer 2024 abgeschlossenen und nachhaltig erfoglreichen Projekt „Trauer unterm Flutlicht“. Zudem pflegt unser Club eine interne Arbeitsgemeinschaft zum Thema. Aktionen wie regelmäßige Besuche von Beerdigungen, das Verfassen von Kondolenzschreiben sowie das Gedenken verstorbener Mitglieder auf den Mitgliederversammlungen unterstreichen das blau-weiße Bewusstsein für dessen Bedeutung.

von Konstantin Keller